Es ist Fussball-Weltmeisterschaft. Das merkt man zum einen an diversen aufgeschnappten Gesprächen, die von „dieses mal reissen wir es“ bis hin zu „da bin ich wieder stolz, ein Schweizer zu sein“ reichen. Zum anderen merkt man es an omnipräsenten Schweizerfahnen. Sei es vor Häusern, auf Autos oder von Balkonen.
Überall weht das rote Quadrat mit dem weissen Kreuz.
Alles wird mit einem zusätzlichen Schweizerkreuz verkauft. Joghurt, Grillfleisch, T-Shirts, Backhandschuhe.
„Swiss-Edition“ hier, „Hopp Schwiz“ da. Die Schweiz, ein Kassenschlager.
Eine Auseinandersetzung mit Patriotismus und Nationalismus, längst überfällig und jetzt besonders aktuell.
Die Schweiz ist stabil, wohlhabend und sicher. Am Klima und der Mentalität könnte man noch arbeiten.
Es gibt noch viel anzupacken, aber grundsätzlich ist die Schweiz ein gutes Land, um darin zu leben.
Die Fahnen stehen nicht dafür, dass die Schweiz ein gutes Land ist, um darin zu leben. Sie stehen für dumpfen Patriotismus, blinde Vaterlandsliebe, für Selbstzufriedenheit und Sattheit. Sie stehen für eine Schweiz, wie sie die SVP gerne möchte. Sie stehen für Trägheit, für das Gefühl des Nichtsverändernwollens.
Für die Postkartenschweiz, die Schweiz der Schiess- und Schwingervereine, die schweizerische Schweiz.
Wer die Schweizerfahne sieht, denkt nicht an eine tolerante, offene Schweiz, an Kultur jenseits von Jodler- und Ländlerfesten. Die Schweizerfahne repräsentiert die urbane, linke, alternative, international orientierte, junge Schweiz heute nicht.
Es muss der Linken gelingen, den Rechten die Deutungshoheit über die rote Fahne mit dem weissen Kreuz zu entreissen. Ziel muss sein, dass die Schweizerfahne nicht mehr nur den Rechten gehört, sondern dass man auch an die „andere“ Schweiz denkt, wenn man eine Schweizerfahne sieht.
Es ist okay, sich über einen der raren Siege der Schweizer Nationalmannschaft zu freuen. Man darf einfach nicht übersehen, dass das aktuelle Kader auch Schwarze und Secondos einschliesst.
Würden Yakin, Fernandes und Shaquiri nicht Tore für die Schweiz schiessen, sie wären für die Hälfte der momentan jubelnden Masse nichts weiter als die „stinkenden Ausländer von nebenan“.
Ich lebe in der Schweiz und lebe meist gerne hier.
Bin ich deshalb stolz, ein Schweizer zu sein? Nein. Schweizer zu sein oder nicht, ist keine Leistung und kein Versagen. Es hängt von der Nationalität der Eltern ab, vom Bürger- und Geburtsort. Wie kann man stolz sein auf etwas, was man nicht geleistet hat? Stolz auf einen Zufall?
Das Betonen und Betonieren der Nationalität ist attraktiv. Verlierer, die sonst auf nichts stolz sein können, sind immerhin stolz, Schweizer zu sein.
Patriotismus heisst „wir sind gut“. Und von „wir sind gut“ ist es nicht weit zu „Wir sind besser. Die anderen sind weniger gut als wir“.
Vom Patriotismus ist es nicht weit zu seinem hässlichen Bruder, dem Nationalismus.
Und was Nationalismus anrichten kann, wissen wir alle.